Urteil - Kanzlei Hoang

Krankheitsbedingte Kündigung und Gleichstellung

Das Bundesarbeitsgericht hatte in diesem Fall darüber zu entscheiden, ob eine langjährig beschäftigte und einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellte Arbeitnehmerin wirksam wegen häufiger Erkrankungen gekündigt werden kann. Die Klägerin war über viele Jahre im Unternehmen tätig und hatte wiederholt krankheitsbedingte Fehlzeiten. Ihr Arbeitgeber sah darin eine unzumutbare Belastung und sprach eine ordentliche Kündigung aus.

Das Urteil ist für Arbeitnehmer besonders relevant, weil es zwei wichtige Themen verbindet: den Kündigungsschutz bei Krankheit und den Schutz gleichgestellter schwerbehinderter Menschen. Zugleich stellt das Gericht klar, dass Sonderzahlungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Belastung des Arbeitgebers keine Rolle spielen dürfen. Für Beschäftigte, die gesundheitlich eingeschränkt sind oder unter den besonderen Schutz des Sozialgesetzbuchs fallen, schafft die Entscheidung Rechtssicherheit. Sie zeigt, dass Arbeitgeber selbst bei wiederholten Erkrankungen die Interessenabwägung sorgfältig und fair vornehmen müssen. Damit stärkt das Urteil den Schutz kranker oder gleichgestellter Arbeitnehmer vor voreiligen Kündigungen.

GerichtBundesarbeitsgericht
Aktenzeichen2 AZR 125/21
Entscheidungsdatum22. Juli 2021
VorinstanzenLandesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 20. Januar 2021 – 5 Sa 61/19 / Arbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 7. Mai 2019 – 27 Ca 443/18
Relevante Vorschriften§ 1 KSchG, § 626 BGB, §§ 168 ff. SGB IX, § 4a EFZG

Sachverhalt

Die Klägerin war seit Januar 1999 in einem größeren Unternehmen beschäftigt. Aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen war sie mehrfach über längere Zeiträume arbeitsunfähig erkrankt. Zwischen 2012 und 2018 summierten sich ihre krankheitsbedingten Fehlzeiten auf eine erhebliche Zahl von Tagen pro Jahr. Der Arbeitgeber leistete jeweils Entgeltfortzahlung nach den gesetzlichen Vorschriften und gewährte in mehreren Jahren zusätzlich Sondervergütungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld, Tankzuschüsse, Boni und Zuschüsse zum Krankengeld.

Besonderheit des Falls war, dass die Klägerin einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt war. Diese Gleichstellung (§ 2 Abs. 3 SGB IX) verleiht ihr denselben besonderen Kündigungsschutz wie schwerbehinderten Arbeitnehmern. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber vor jeder Kündigung die Zustimmung des Integrationsamts einholen muss. Diese Zustimmung wurde im vorliegenden Fall erteilt.

Der Arbeitgeber begründete die Kündigung mit den häufigen und langandauernden Erkrankungen der Klägerin. Diese führten seiner Ansicht nach zu erheblichen betrieblichen und wirtschaftlichen Belastungen. Neben den Entgeltfortzahlungskosten verwies der Arbeitgeber auch auf die zusätzlich gezahlten Sondervergütungen, die seiner Meinung nach die Belastung noch erhöhten. Die Klägerin hielt die Kündigung für sozial ungerechtfertigt und erhob Kündigungsschutzklage.

Sowohl das Arbeitsgericht Hamburg als auch das Landesarbeitsgericht gaben der Klägerin Recht. Der Arbeitgeber legte daraufhin Revision beim Bundesarbeitsgericht ein.

Entscheidungsgründe

Das Bundesarbeitsgericht bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen und erklärte die Kündigung für unwirksam. Zwar könne eine krankheitsbedingte Kündigung grundsätzlich sozial gerechtfertigt sein, wenn eine negative Gesundheitsprognose vorliegt, betriebliche Interessen erheblich beeinträchtigt sind und die Interessenabwägung zugunsten des Arbeitgebers ausfällt. Im konkreten Fall sah das Gericht diese Voraussetzungen jedoch nicht als erfüllt an.

Zwar durfte der Arbeitgeber aufgrund der bisherigen Krankheitszeiten eine gewisse negative Gesundheitsprognose annehmen. Allerdings fehlte es an einer ausreichenden Darlegung, dass die betrieblichen Belastungen unzumutbar waren. Besonders wichtig war der Hinweis des Gerichts, dass Sondervergütungen wie Weihnachts- oder Urlaubsgeld, Boni oder Tankzuschüsse nicht als zusätzliche wirtschaftliche Belastung im Rahmen einer krankheitsbedingten Kündigung berücksichtigt werden dürfen. Diese Zahlungen seien freiwillige oder kollektiv vereinbarte Leistungen, die nicht unmittelbar mit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit zusammenhängen. Der Arbeitgeber könne sich also nicht darauf berufen, er habe aufgrund solcher Zahlungen zusätzliche Kosten tragen müssen, um eine Kündigung zu rechtfertigen.

Darüber hinaus stellte das Gericht klar, dass bei Arbeitnehmern mit Schwerbehinderteneigenschaft oder Gleichstellung besonders sorgfältig geprüft werden muss, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich unzumutbar ist. Die gesteigerte soziale Schutzwürdigkeit dieser Personengruppe verlangt eine besonders sorgfältige Interessenabwägung. Im Ergebnis sah das Bundesarbeitsgericht keine ausreichende Grundlage für eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses und wies die Revision des Arbeitgebers zurück.

Das Urteil stärkt somit den Kündigungsschutz gleichgestellter und schwerbehinderter Arbeitnehmer. Es verhindert, dass Arbeitgeber freiwillige Sonderleistungen nachträglich zur Rechtfertigung einer Kündigung heranziehen können. Gleichzeitig betont es die Pflicht, die Zustimmung des Integrationsamts einzuholen und die Schutzvorschriften des SGB IX ernsthaft zu beachten. Für Arbeitnehmer bedeutet das: Auch bei längerer Krankheit sind Kündigungen nur in engen Grenzen zulässig – insbesondere, wenn ein besonderer Kündigungsschutz besteht.

Zusammenfassung

Gleichgestellte Arbeitnehmer genießen besonderen Kündigungsschutz; Sondervergütungen dürfen bei krankheitsbedingter Kündigung nicht als Kostenfaktor herangezogen werden.

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Bildnachweis: Foto von KATRIN BOLOVTSOVA

Rechtsanwalt Van Hoang, LL.B.
Rechtsanwalt Van Hoang, LL.B.

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