Urteil - Kanzlei Hoang

Fahrzeit ist Arbeitszeit: Neues Urteil des EuGH stärkt Arbeitnehmerrechte

In diesem Fall ging es um die Frage, ob Fahrzeiten von Arbeitnehmern im Naturschutzbereich als Arbeitszeit gelten müssen. Die Beschäftigten wurden täglich von einem festen Treffpunkt aus mit Firmenfahrzeugen zu wechselnden Einsatzorten in Naturräumen gebracht. Dabei stellte sich die Frage, ob diese Wegezeiten – sowohl zu Beginn als auch am Ende des Arbeitstages – als echte Arbeitszeit zählen. Für Arbeitnehmer ist das wichtig, weil die Einordnung darüber entscheidet, ob diese Zeit vergütet werden muss und ob Arbeitszeitgrenzen eingehalten werden. Viele Beschäftigte in Außendiensten kennen das Problem, dass Fahrten nicht vollständig berücksichtigt werden. Das Urteil klärt grundlegende Fragen und stärkt die Rechte von Arbeitnehmern ohne festen Arbeitsplatz. Die Entscheidung zeigt deutlich, dass Arbeitgeber klare Vorgaben zu Beginn und Ende der Arbeit nicht ohne Folgen ignorieren dürfen.

GerichtGerichtshof der Europäischen Union (EuGH)
AktenzeichenC-110/24
Entscheidungsdatum09.10.2025
Vorlegendes GerichtTribunal Superior de Justicia de la Comunidad Valenciana (Spanien)
Relevante VorschriftenRichtlinie 2003/88/EG (Arbeitszeitgestaltung), Richtlinie 89/391/EWG (Sicherheit und Gesundheitsschutz)

Sachverhalt

Die betroffenen Arbeitnehmer waren im Bereich Biodiversität tätig und arbeiteten in verschiedenen Naturräumen innerhalb der valencianischen Gemeinschaft. Ihre Tätigkeiten fanden nicht an einem festen Arbeitsplatz statt, sondern wechselten täglich je nach Lage der jeweiligen Schutzgebiete. Die Beschäftigten mussten sich jeden Morgen um 8:00 Uhr an einem sogenannten Stützpunkt einfinden, den der Arbeitgeber festgelegt hatte. Dort stand ein Firmenfahrzeug bereit, das von einem Mitarbeiter des Unternehmens gefahren wurde und das gesamte notwendige Material für den Arbeitstag transportierte. Erst von diesem Stützpunkt aus fuhren die Beschäftigten gemeinsam zum jeweiligen Einsatzort.

Am Ende des Arbeitstages wurden die Arbeitnehmer zurück zum Stützpunkt gebracht. Von dort mussten sie auf eigene Faust nach Hause fahren. Der Arbeitgeber erfasste zwar die Fahrtzeit am Morgen als Arbeitszeit, die Rückfahrt jedoch nicht. In den Arbeitsverträgen war zudem festgehalten, dass die Wege zwischen Stützpunkt und Einsatzort grundsätzlich nicht als Arbeitszeit gelten sollten. Die Gewerkschaft STAS-IV klagte dennoch, weil die Fahrten zwingend nach den Vorgaben des Arbeitgebers erfolgten und die Beschäftigten währenddessen keinen Einfluss auf Ziel, Zeit oder Strecke hatten.

Das vorlegende Gericht schilderte, dass es zu genau dieser Frage bereits widersprüchliche nationale Entscheidungen gab. Während einige Gerichte solche Fahrten als Arbeitszeit einstuften, lehnten andere dies ab. Der nationale Gerichtshof sah deshalb die Notwendigkeit, den EuGH anzurufen, um eine einheitliche europäische Auslegung des Begriffs „Arbeitszeit“ zu erhalten. Kernpunkt war die Frage, ob Beschäftigte ohne festen Arbeitsort bei der Fahrt zwischen Stützpunkt und Einsatzort bereits arbeiten oder ob es sich lediglich um eine Art erweiterte Wegezeit handelt, die nicht geschützt werden muss.

Entscheidungsgründe

Der EuGH stellte zunächst klar, dass nach europäischem Arbeitszeitrecht nur zwei Kategorien existieren: Arbeitszeit und Ruhezeit. Eine Zwischenform gibt es nicht. Das bedeutet, dass jede Zeitspanne entweder vollständig als Arbeitszeit oder vollständig als Ruhezeit einzuordnen ist. Entscheidend sei dabei, ob der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausübt, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und nicht frei über seine Zeit bestimmen kann. Diese Grundsätze gelten einheitlich in allen Mitgliedstaaten und dürfen auch vertraglich nicht eingeschränkt werden.

Im vorliegenden Fall kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Fahrzeiten zwischen Stützpunkt und Einsatzort klar zur Arbeitszeit gehören. Die Arbeitnehmer mussten sich an einem festen, vom Arbeitgeber bestimmten Treffpunkt einfinden und gemeinsam in einem Firmenfahrzeug fahren. Sie konnten die Route nicht beeinflussen und waren organisatorisch vollständig in den Arbeitsablauf eingebunden. Diese Fahrt war zwingend erforderlich, um die Arbeit überhaupt ausüben zu können. Daher sah der EuGH diese Zeit als Teil der Tätigkeit an, auch wenn während der Fahrt keine aktive Arbeitsleistung erbracht wird.

Der Gerichtshof betonte außerdem, dass die Beschäftigten in dieser Zeit nicht frei über ihre Zeit verfügen konnten. Der Arbeitgeber bestimmte sowohl die Abfahrtszeit als auch den Ort und das Ziel der Fahrt. Das bedeutet, dass die Arbeitnehmer während der Fahrt rechtlich gebunden waren und ihren eigenen Interessen nicht nachgehen konnten. Unter solchen Umständen stehen sie dem Arbeitgeber zur Verfügung – ein zentrales Merkmal von Arbeitszeit. Zudem hatten die Beschäftigten keinen festen Arbeitsort, sodass die Fahrten zwingend zur Ausübung ihrer vertraglichen Tätigkeit gehörten.

Für Arbeitnehmer ist das Urteil besonders wichtig, weil Arbeitgeber oft versuchen, Fahrzeiten nicht vollständig zu erfassen oder nur teilweise anzuerkennen. Der EuGH stellt hier klar, dass zwingend vorgegebene Wegezeiten, die unmittelbar mit der Ausübung der Tätigkeit zusammenhängen, vollständig als Arbeitszeit zu behandeln sind. Das schafft Klarheit für Beschäftigte in vielen Branchen – insbesondere im Außendienst, im technischen Service, bei mobilen Sozialdiensten oder in der Landschaftspflege. Außerdem stärkt es die Rechte der Arbeitnehmer, weil Ruhezeiten und Höchstarbeitszeiten korrekt berechnet werden müssen. Das Urteil entspricht der bisherigen Linie des EuGH und führt sie konsequent fort, erweitert sie aber auf Fälle mit einem festen Stützpunkt und wechselnden Einsatzorten.

Was könnte das für deutsche Arbeitnehmer bedeuten

Das Urteil des EuGH kann für deutsche Arbeitnehmer erhebliche Bedeutung haben, denn auch in Deutschland gibt es viele Tätigkeiten ohne festen Arbeitsort. Dazu zählen unter anderem Servicetechniker, mobile Pflegekräfte, Monteure, Vertriebsmitarbeiter oder Beschäftigte im öffentlichen Sektor, die regelmäßig an wechselnden Einsatzstellen arbeiten. Wenn Arbeitnehmer nach festen Vorgaben des Arbeitgebers zu bestimmten Orten fahren müssen, kann diese Zeit nach den Grundsätzen des Urteils als Arbeitszeit gelten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Fahrt vom Wohnort oder – wie im Fall des Urteils – von einem vorher festgelegten Treffpunkt erfolgt. Wesentlich ist, dass der Arbeitgeber die Fahrt organisatorisch steuert und die Beschäftigten in dieser Zeit nicht frei über ihre Zeit verfügen können.

Für viele Beschäftigte bedeutet das, dass bisher nicht berücksichtigte Wegezeiten künftig als Arbeitszeit anzuerkennen sind. Das kann Auswirkungen auf die Vergütung, Überstunden, Pausenregelungen und die Einhaltung gesetzlicher Höchstarbeitszeiten haben. Auch in deutschen Arbeitsverträgen finden sich häufig Klauseln, die solche Fahrten pauschal von der Arbeitszeit ausnehmen. Solche Vereinbarungen müssen sich jedoch an den Vorgaben des europäischen Arbeitszeitrechts messen lassen, das zwingenden Charakter hat. Wenn die Fahrten unverzichtbarer Bestandteil der Tätigkeit sind und vom Arbeitgeber vollständig vorgegeben werden, kann eine vertragliche Ausschlussklausel unwirksam sein.

Für Betriebsräte und Gewerkschaften eröffnet die Entscheidung zusätzliche Argumente, um die korrekte Erfassung von Arbeitszeiten durchzusetzen. Arbeitgeber sind verpflichtet, Arbeitszeitmodelle so zu gestalten, dass alle Zeiten, in denen Beschäftigte gebunden sind, vollständig berücksichtigt werden. Das Urteil stärkt damit die Rechte der Arbeitnehmer erheblich und schafft Rechtssicherheit in Situationen, in denen die Einordnung von Fahrten bislang umstritten war. In der Praxis kann dies zu Anpassungen von Dienstplänen, Arbeitszeitkonten und Entgeltstrukturen führen.

Zusammenfassung

Fahrten zwischen festgelegtem Stützpunkt und Einsatzort gelten als Arbeitszeit, wenn sie zwingend nach Vorgaben des Arbeitgebers erfolgen.

Das können wir für Sie tun

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Bildnachweis: Foto von KATRIN BOLOVTSOVA

Rechtsanwalt Van Hoang, LL.B.
Rechtsanwalt Van Hoang, LL.B.

Rechtsanwalt Hoang ist bundesweit tätig und spezialisiert auf Arbeitsrecht – von Kündigung und Abmahnung bis hin zu Aufhebungsverträgen und Lohnansprüchen. Zusätzlich berät er kompetent im allgemeinen Zivilrecht und Datenschutzrecht. Mandanten profitieren von klarer Kommunikation, effizienter Fallbearbeitung und fundierter juristischer Expertise. Dabei legt er besonderen Wert auf strategisches Vorgehen und taktisch kluges Verhandeln, um für seine Mandanten optimale Ergebnisse zu erzielen.

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